Im Advent liegen in vielen Familien die Nerven blank. Die Kinder sind ausser Rand und Band und haben plötzlich alle Regeln des Zusammenlebens vergessen: Vor lauter Überdrehtheit sind sie frustriert und enttäuscht, man könnte meinen, sie würden keine Dankbarkeit kennen. Gebrüll, Schimpfen, Weinen und Strafen wechseln sich ab und verderben vielen Familien fast die schöne Zeit vor Weihnachten.
Zwei Mütter von hyperaktiven Kindern (5.5 Jahre und 10 Jahre) haben sich zusammengesetzt und ihre ganz persönlichen Überlebensstrategien für die Feiertage mit einem hyperaktiven Kind für euch zusammengestellt.
Inhaltsverzeichnis
Weihnachtsmärkte, Innenstädte und Einkaufszentren
Viele hyperaktive Kinder sind sehr offen für äussere Reize und Stimuli. Das heisst, sie nehmen Geräusche, Lichter, Berührungen und Bewegungen sehr intensiv wahr, manche sogar in einem Ausmass, das „Normalsterbliche“ nicht nachvollziehen können.
Was bedeutet das für die Vorweihnachtszeit und die Feiertage mit einem hyperaktiven Kind? Ganz einfach: Die übervölkerten Innenstädte, Einkaufszentren und Weihnachtsmärkte mit ihrer Musik, ihren Animationen, den Lichtern… allem, was es zu sehen gibt, sind zwar ein tolles Erlebnis für unsere Kinder, bedeuten gleichzeitig aber auch extrem hohen Stress für sie. Sie überreizen schneller als wir, und können sich manchmal vor lauter Aufregung kaum mehr spüren, geschweige denn kontrollieren.
Es liegt an uns Erwachsenen, in solchen Situationen gut auf unsere Kinder und ihre Bedürfnisse zu achten und sie, wenn nötig an einen ruhigen Ort oder gleich nachhause zu bringen, bevor sie eskalieren. Sonst endet der schöne Ausflug mit Tränen.
Zucker und Süssigkeiten
Man hört ja immer wieder die Behauptung, dass Hyperaktivität durch Zucker hervorgerufen würde. Ob das tatsächlich so ist, ist im Alltag unwichtig. Was wir als Eltern hyperaktiver Kinder wissen ist: Zu viel Zucker, Gebäck, Schokolade und Desserts verstärken das Hibbeln und Zappeln, das Zucken und Hüpfen, und die Kinder gehen schon nach kurzer Zeit durch die Decke.
Einteilen können sich (noch) nicht, erst recht nicht, wenn sie bereits im Freilauf drehen. Wir Erwachsenen beherrschen das ja auch nur bedingt, wenn wir ehrlich sind: Die Büchse Kekse ist schneller weg, als unser Gehirn „aber nur eines oder zwei“ denken kann!
Wenn wir Grossen das schon nicht können, können es unsere Kinder erst recht (noch) nicht. Deshalb müssen wir aktiv eingreifen und dafür sorgen, dass die Süssigkeiten auch während den Feiertagen nicht grenzenlos zugänglich sind.
Wegsperren und Rationieren ist natürlich nicht sehr sexy und wir werden uns damit bei unseren Kindern auch nicht beliebt machen. Fakt ist aber: Sie sind mit der schieren Menge an Süssigkeiten überfordert und wir müssen ihnen helfen, diese Überforderung in den Griff zu bekommen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir schlagen vor, Süssigkeiten zu sammeln und beispielsweise das Kind nach dem Essen oder zum Zvieri eines (oder zwei, oder drei) auswählen zu lassen.
Bei grösseren Kindern kann man auch versuchen, ihnen eine Wochenration zur Verfügung zu stellen, die sie sich dann selbst einteilen können. Dann darf man sich aber nicht erweichen lassen: Wenn alles an einem Tag weggegessen wurde, gibt es erst eine Woche später wieder eine neue Portion.
Warten und Impulskontrolle
Advent heisst„Erwartung“, und das ist bei hyperaktiven Kindern ein schlechtes Omen. Störungen der Impulskontrolle und Ungeduld werden durch die Aufregung und Erwartung noch verstärkt.
Wir müssen uns selbst immer wieder daran erinnern: Wenn unser hyperaktives Kind nicht warten kann, den Adventskalender in einem Rutsch öffnen will oder ähnliches, dann steht da kein böser Wille, kein „ich will mich nicht an die Spielregeln halten“ dahinter. Das Kind kann es in diesem Moment einfach nicht besser!
Das wiederum bedeutet nichts Anderes, als dass man es mit einem Adventskalender in eine Situation bringt, in der sein Versagen vorprogrammiert ist. Den Teufelskreis aus Überforderung, Versagen und Selbstabwertung wollen wir aber ja gerade vermeiden.
Heisst das jetzt, dass ein hyperaktives Kind keinen Adventskalender haben darf?
Nein, natürlich nicht! Aber Strafen und Schimpfen sind definitiv der falsche Weg, damit es das Warten lernt! Das Kind braucht Anleitung und Führung. Wenn abzusehen ist, dass es den Kalender in einem Rutsch leeren würde, dann darf es keinen freien Zugang dazu haben. Sonst wird es Frustration und Tränen geben. Man könnte zum Beispiel immer am Morgen dem Kind erlauben, ein Päcklein / Türlein zu öffnen und den Kalender danach wieder wegschliessen.
Das ist dann auch gleich eine wunderbare Gelegenheit, um die Selbstregulation zu trainieren. Zudem darf das Kind lernen, wie schön es ist, sich auf etwas hin zu freuen.
Übergänge und Ruhepausen
Verabschiedungen, Verschiebungen, fremde Orte mit fremden Leuten, machen vielen Kindern Mühe. In unserem vollgestopften Adventsprogramm gibt es mehr solche Momente als sonst während des Jahres. Sprüche wie „man soll dann aufhören, wenn es am Schönsten ist“, sind da nur bedingt hilfreich, denn in den Augen der Kinder ist es immer gerade jetzt am Schönsten und sie wollen diesen schönen Moment natürlich auf immer und ewig festhalten.
Kinder leben im Jetzt, und unsere Sorgen, Tante Eugenia zu verpassen, oder was wohl Uropa Hansdietrich denken wird, wenn wir zu spät zu seiner Feier kommen – das interessiert unsere Kinder nicht.
Seien wir ehrlich: Uns selbst täte ein etwas weniger vollgestopftes Programm auch gut!
Sorgen Sie für langsame Übergänge! Rechnen Sie genug Zeit ein, um von A nach B zu gelangen plus noch eine grosse Zeitreserve, um zwischen zwei Feiern einen ausgedehnten Spaziergang oder ein paar Minuten auf dem Spielplatz einbauen zu können. Pausen nur mit der engen Familie, ohne andere Menschen, Bildschirme oder sonstige Animationen!
Feiertage sind anstrengend. Sorgen sie deshalb tagsüber immer wieder für Momente, an denen ihre Kinder geistig zur Ruhe kommen und sich nicht zusammenreissen, nicht höflich sein müssen. Momente, während denen sie aber auch kreischen, schreien und die Sau rauslassen dürfen!
Bescherung: Geschenkorgien vorbeugen
Davon können viele von uns ein Lied singen und wir alle haben uns wahrscheinlich schon mal ein Bisschen für unser Kind geschämt, weil es so undankbar scheint: Es reisst ein Geschenk nach dem anderen auf und wirft sie, ohne überhaupt hinzusehen, in die nächste Ecke und verlangt noch eins und noch eins und noch eins.
Bei allem Verständnis für das elterliche Unwohlsein in solchen Situationen: Das Kind ist weder unverschämt, noch undankbar, sondern schlicht und einfach überfordert!
Deshalb unser Tipp bei Familienfeiern, an denen zahlreiche Geschenke zu erwarten sind: Einteilen!
Statt der einen grossen Bescherung mit zig Päckli unter dem Christbaum, treffen sie mit den Schenkenden die Vereinbarung, dass immer nur ein Geschenk auf einmal auftaucht. Eines vor dem Essen, ein anderes danach, ein Drittes vor dem Christbaum und ein Viertes nach dem Kuchenessen…
So kann sich das Kind auf das eine Geschenk konzentrieren, das es in den Händen hält und glauben sie mir: Es wird sich dann auch gebührend freuen und seine Dankbarkeit ausdrücken können! Und so können auch Eltern die Feiertage mit einem hyperaktiven Kind ohne die Angst angehen, als schlechte Eltern dazustehen.
Klare Strukturen und regelmässige Abläufe
Den meisten Kindern helfen klare Strukturen und regelmässige Abläufe im Alltag, um in der Spur zu bleiben. Die Adventszeit ist oft genau das Gegenteil davon: Der Dezember ist angefüllt mit Konzerten, Apéros, Geselligkeiten, Familienfeiern, Knabbereien… Was für alle Kinder anstrengend ist, kann für unsere dann schon „too much“ sein und sie verschaffen ihrem Unwohlsein und Überforderung durch unkooperatives Verhalten, Trotz und Opposition Luft.
Deshalb lohnt es sich zu versuchen, ein Maximum an Struktur aufrecht zu erhalten. Halten Sie sich an die gewohnten Essens- und Schlafenszeiten. Wenn dies nicht möglich ist, entspannend Sie sich! Wenn sie mal einen Anlass ausfallen lassen und stattdessen mit dem Kind kuscheln und ihm eine Geschichte vorlesen, wird die Welt davon auch nicht untergehen!
Erfüllte Bedürfnisse bei Eltern und Kindern helfen gegen schlechte Laune und Gereiztheit
Lassen Sie fünf gerade sein! Unsere Kinder geben ihr Bestes und wenn das nicht ausreicht, kann man es auch mit Schimpfen und Drohen nicht erzwingen.
Zeigen Sie Verständnis und sorgen Sie dafür, dass die Bedürfnisse des Kindes gedeckt sind. Das ist ja nicht viel: Genug Schlaf und frische Luft, Bewegung und Ruhepausen.
Vergessen Sie bei der Gelegenheit nicht, dass auch Sie selbst diese Bedürfnisse haben! Je besser ausgeruht Sie als Eltern sind und je besser Sie für sich selbst gesorgt haben, desto geduldiger und verständnisvoller können Sie auf quengelige, überzuckerte und übermüdete Kinder eingehen! Lesen Sie dazu „Wie Eltern von hyperaktiven Kindern ihre Kräfte schonen können“ Und im Notfall finden Sie im Artikel „Was Eltern tun können wenn sie die Geduld verlieren“ noch ein paar hilfreiche Tipps.
Fazit: Wie überlebt man die Feiertage mit einem hyperaktiven Kind?
Wie wir gesehen haben, stellen die Feiertage mit einem hyperaktiven Kind einen besondere Herausforderung dar. Schnell kann der Familiensegen schief hängen. Aber mit den richtigen Strategien können Sie als Eltern diese Zeit für alle Familienmitglieder angenehm gestalten: reduzieren Sie Überreizung, kontrollieren Sie den Zuckerkonsum, unterstützen Sie Ihr Kind mit der Impulskontrolle und während Wartezeiten, und halten Sie so weit wie möglich ihre Strukturen und Routinen aufrecht. Berücksichtigt nicht nur die Bedürfnisse des Kindes nach genug Schlaf, Bewegung und Ruhepausen, sondern auch Eure eigenen, da Eure Ausgeglichenheit (oder nicht) einen direkten Einfluss auf das Stresslevel Eures Kindes hat!
Mit Verständnis, Vorausplanung und Flexibilität können auch für „hyperaktive Familien“ die Feiertage zu einem positiven Erlebnis und wertvollen Erinnerungen werden!