Keine Frage: Hyperaktive und impulsive Kinder können ihre Eltern und sonstigen Bezugspersonen ganz schön an ihre Grenzen bringen. Auch wenn dies ohne böse Absicht geschieht, können sich manchmal all unsere Vorsätze in Sachen Geduld, Gelassenheit und pädagogisch wertvoller Kommunikation in einem Feuerball von Wut und Gebrüll auflösen.

Wieso wir die Geduld verlieren

Wir sehen weiter voraus als unsere Kinder und können somit auch die Konsequenzen ihres Handelns besser abschätzen. Deshalb stresst es uns, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht machen (da springt unterbewusst ein ganzer Film in unserem Kopf an: schlechte Noten, kein Ausbildungsplatz, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, alles ganz furchtbar….) oder herumbummeln, wenn sie sich doch beeilen sollten (Bus verpasst, Arzttermin verpasst, alles ganz furchtbar…. ).

Unser Hirn fängt an, Stresshormone zu produzieren und ab einem gewissen Zeitpunkt übernimmt quasi unser Reptiliengehirn die Kontrolle über unser Handeln. In einer echten Gefahrensituation kann uns das das Leben retten, aber während wir mit unserem Kind die Aufgaben machen oder es morgens für den Schultag bereit machen, ist das eher kontraproduktiv. Unser unser Stress überträgt sich auf das Kind und am Ende sind alle am Brüllen und das Kind ist gar nicht mehr empfänglich für das, was wir ihm mitteilen.

Das Reptiliengehirn springt an und übersteuert unsere Selbstkontrolle und das bewusste Handeln. Im Vorbeigehen wirft es auch gleich noch all unsere guten Vorsätze über Bord, wenn wir die Geduld verlieren. Plötzlich hören wir Worte unserer eigenen Eltern aus unserem Mund kommen (und zwar ausgerechnet die, von denen wir uns geschworen haben, dass wir sie niemals zu unseren Kindern sagen würden). Wir brüllen herum oder stossen unsinnige Drohungen aus (ich werfe gleich all deine Spielsachen aus dem Fenster).

Wenn dann das Kind noch zurück mault, schaukelt sich die Situation sehr schnell zu einem Teufelskreis hoch, aus dem man kaum mehr herausfindet.

Aber es gibt eine Lösung und man kann sie trainieren.

Wie man aus dem Teufelskreis der Wut wieder hinausfindet

Das Reptiliengehirn, das bei Stress in Aktion tritt, kennt nur drei Funktionen: Kampf, Flucht oder Erstarren. Was können wir also tun, nachdem wir die Geduld verloren haben?

Bleiben wir in der Situation und versuchen, sie durch Lauter-als-das-Kind-Brüllen unter Kontrolle zu bekommen, befinden wir uns im Kampfmodus. Wir schreien herum, drohen, sagen gemeines Zeug und im Extremfall knallt der eine oder andere dem Kind sogar eine. Zu diesem Zeitpunkt ist keine konstruktive Lösung möglich.

1. Weggehen: Die Situation verlassen

Die einzige Möglichkeit, den Teufelskreis zu durchbrechen, ist deshalb die Flucht.

Je nach Alter des Kindes kann man zum Beispiel:

  • in einen anderen Raum gehen,
  • sich auf dem WC einsperren,
  • unter die Dusche stehen,
  • vor die Tür oder auf den Balkon gehen,

Egal, wofür man sich entscheidet: Man sollte dem Kind klar sagen, dass man jetzt eine Pause benötigt, weil man sonst die Geduld verliert, und dann dort alleine hingehen und so lange bleiben, bis man wieder klar denken kann.

2. Sich beruhigen

„Sauerstoffmaske“

Um sich zu beruhigen, kann man Atemtechniken anwenden, wie beispielsweise die „Heart Coherence“-Technik von Dr. David O’Hare (siehe App „Respirelax“ im Google Play Store)

Weitere hilfreiche Atemtechniken sind:

  • ganz ausatmen, den Atem bei leerer Lunge so lange wie möglich anhalten und dann ein paar tiefe Atemzüge nehmen
  • „Pusteblume“: mit den Lippen einen spitzen Mund formen und langsam die Luft entweichen lassen, wie wenn man einen Löwenzahn anpusten würde, mehrmals wiederholen
  • Ballon aufblasen
  • Seinen Körper bewusst wahrnehmen und in die vorhandenen Spannungen „hinein atmen“

Einfach ausprobieren, was bei euch funktioniert!

Auf seinen Körper achten

  • Man kann still da sitzen und die Wut quasi bewusst dabei beobachten, wie sie den Körper langsam wieder verlässt.
  • Man kann ein Glas Wasser in kleinen Schlucken oder mit einem Strohhalm ganz langsam austrinken.
  • Man kann sich ganz lang strecken und dabei fühlen, wie sich die Muskeln entspannen und mit Sauerstoff versorgt werden.
  • Die Schuhe ausziehen und den Boden unter den Füssen spüren.
  • Einen Igelball oder Massageball (Werbelink) mit der Fusssohle herumrollen.
  • Sich ruhig hinstellen und seinen Körper „scannen“: Die Fusssohlen bewusst wahrnehmen, dann die Waden, die Oberschenkel, die Hüfte,…. bis in die Fingerspitzen und hoch in den Kopf.
  • Wenn vorhanden ein paar „Runden“ auf dem Zimmervelo fahren, einem Zimmertrampolin oder mit dem Gymnastikball turnen.
  • Langsam mit den Armen kreisen oder andere „grosse“ Bewegungen ausführen.

Am Fenster, auf dem Balkon oder draussen im Freien

  • Langsam, in gleichmässigen Schritten gehen und die Atmung an die Schritte anpassen (z.b. 4 Schritte einatmen, 4 Schritte ausatmen).
  • Grün ansehen beruhigt! (z.b. den Wald, eine Wiese,…) Das funktioniert übrigens sogar in Innenräumen, wenn wir das Bild eines Waldes betrachten oder eine grüne Tapete.
  • Barfuss über Gras, Erde oder eine andere unebene Fläche laufen und dabei die Empfindungen an den Fusssohlen bewusst wahrnehmen.

Einfache Psychotricks

  • Lächeln (auch wenn einem nicht darum ist). Nach einer halben Minute dämlich Grinsen melden die Gesichtsnerven ans Gehirn, dass man zufrieden ist, dass es einem gut geht. Darauf hin schüttet das Gehirn die entsprechenden Hormone aus.
  • Ein Häuschen Schokolade ganz langsam und bewusst im Mund zergehen lassen, die dabei entstehenden Empfindungen und Gefühle achtsam wahrnehmen.
  • Einen negativen inneren Dialog „umschreiben“: Statt „ich bin so genervt“ sich selbst sagen: „ich atme, bis es mir besser geht“.
    Wichtig: Dabei kein zwanghaftes positives Denken anzuwenden versuchen, denn das funktioniert nicht und man nervt sich nur noch mehr.

Vielleicht kennt ihr auch andere Tricks? Dann wäre es schön, wenn ihr sie uns in den Kommentaren oder in der Facebookgruppe verraten würdet.

3. Reflektieren

Wenn man wieder klar denken kann, ist es sinnvoll, wenn man noch nicht gleich zurück zu seinem Kind geht. Es lohnt sich, erst darüber nachzudenken, wie das Problem zu lösen ist, das den Streit ausgelöst hat. Dazu ruft man sich kurz die eigenen Prioritäten und Werte in Erinnerung, denn die Lösung wird davon abhängen. Ist es wirklich wichtig, dass die Hausaufgaben jetzt gleich und vollständig gelöst sind oder ist es für unsere Familie uns unser Kind wichtiger, dass es noch eine Stunde auf den Bolzplatz kann, um sich abzureagieren?

4. Sich bewusst eine Absicht (Intention) setzen

Wenn man sich beruhigt hat und wieder Klarheit gefunden hat, was man in der Situation erreichen will, ist der nächste Schritt sich vorzunehmen, wie man sich dem Kind gegenüber verhalten möchte. Will ich mich entschuldigen, will ich ihm einen Kompromiss vorschlagen? Wie will ich sein und was erwarte ich von meinem Kind? Wie sage ich ihm das?

5. Zurück gehen

Erst dann geht man zurück zu seinem Kind und kann dann aus dieser Klarheit heraus mit ihm reden.

In den meisten Fällen ist das Kind jetzt auch bereit, zuzuhören und zu kooperieren.

Es ist menschlich, die Geduld zu verlieren

Geduld zu verlieren, gehört zum Elternsein dazu – das ist menschlich und kein Grund, sich selbst fertigzumachen. Viel wichtiger ist, wie wir mit solchen Situationen umgehen und was wir daraus lernen.

Indem wir bewusst handeln, können wir nicht nur uns selbst beruhigen, sondern auch unseren Kindern ein wertvolles Vorbild sein. Schliesslich zeigen wir ihnen durch unser Verhalten, wie man konstruktiv mit Stress und Konflikten umgeht.

Wenn wir reflektieren und neue Strategien ausprobieren, stärken wir nicht nur die Beziehung zu unseren Kindern, sondern schaffen auch eine Atmosphäre, in der gegenseitiges Verständnis wächst.

Am Ende zählt vor allem eines: Jeder Tag ist eine neue Chance, Geduld zu üben und gemeinsam an Herausforderungen zu wachsen.

Was Eltern tun können, wenn sie die Geduld verlieren.
Was Eltern tun können, wenn sie die Geduld verlieren.

Welche Strategien wendet ihr an, um wieder herunterzukommen, wenn ihr die Nerven verloren habt? Teilt sie mit anderen Eltern in den Kommentaren oder in der Facebookgruppe!