So lange hyperaktive und/oder impulsive Kinder klein sind, können die meisten Familien gut auf sie eingehen und kommen mit ihren Eigenarten gut zurecht. Nur selten werden bereits Vorschulkinder als verhaltensauffällig erkannt und ggf. therapeutisch oder medizinisch behandelt.

Wie gross der Unterschied in der Entwicklung zu den Gleichaltrigen in manchen Fällen sein kann, zeigt sich oft erst nach der Einschulung. Auch da wollen manche Eltern noch nicht wahrhaben, dass ihr Kind „anders“ ist – schliesslich war es schon immer so und da sie sich zuhause gut auf seine Bedürfnisse eingehen können, haben sie auch nie gedacht, dass sein Verhalten ein Problem sein könnte. Eine erfahrene Lehrperson hingegen sieht recht schnell, ob ein Kind „in den Rahmen passt“ oder unter Umständen individuelle Hilfe benötigt, um erfolgreich ins schulische Lernen einsteigen zu können, oder im Klassenbetrieb untergeht.

Also schlägt sie den Eltern vor, die zuständigen Stellen zwecks Abklärung von ADHS zu kontaktieren.

Abklärung!

Abklärung ist ein Wort, das uns triggert. Da kommen Ängste hoch! Bevor auch nur das erste Kreuz auf den Fragebogen gesetzt ist, sehen wir vor unserem inneren Auge, wie unser Kind von überforderten Lehrpersonen „in die ADHS-Schiene gedrängt“ und „mit Ritalin vollgepumpt wird“. Davor möchten wir unser Kind beschützen. Allfällige Probleme in Kita, Schule oder Hort möchten wir gerne auf die Unfähigkeit der Lehrpersonen und Erziehenden schieben, die einfach nicht mit unserem Kind umgehen können. Aus diesem Grund verzichten die meisten Eltern  zunächst, auf den Wunsch nach Abklärung einzugehen.

Erst wenn ernsthafte Probleme auftauchen (z.B. beim Lesen und Schreiben lernen, Lämpen mit den Geschpändli, erste Ansätze einer depressiven Verstimmung beim Kind) wird ihnen klar, dass Handlungsbedarf besteht. Nur dass dann die Situation dann oft schon recht verfahren ist und nur mit grossen Anstrengungen von allen Seiten bereinigt werden kann.

Abklärung ≠ Diagnose

Damit Probleme noch während ihrer Entstehung angepackt werden können und gar nicht erst zu riesigen Bergen anwachsen, möchte ich alle Eltern ermutigen, schon bei den ersten Warnsignalen aus der Schule in eine neuropsychologische Untersuchung einzuwilligen.

Je nach dem, was dabei herauskommt, sind die Testresultate für alle Beteiligten von Nutzen:

  • Mit einem detaillierten Fähigkeitsprofil des Kindes kann die Lehrperson seine Stärken erkennen und sie nutzen, um seine Schwächen kompensieren;
  • Zahlreiche medizinische, pädagogische, umweltrelevante, ernährungstechnische uvm. Ursachen für die motorische Unruhe oder „Empfindlichkeit“ können ausgeschlossen oder wenn nötig behandelt werden;
  • Die Familie erhält genau die Unterstützung, die sie benötigt;
  • Je nach Resultat der Tests kann frühzeitig ein multimodaler Therapie- und Behandlungsplan begonnen werden, so dass eine medikamentöse Therapie unter Umständen gar nie nötig sein wird.

Es sollte um das Kind gehen!

Wenn Eltern die Abklärung verweigern, geht es oft gar nicht um das Kind, sondern um die Angst der Eltern

Wenn ein Kind schlecht sieht, dann bringt man es zum Augenarzt und sorgt dafür, dass es eine Brille bekommt. Wenn es hinkt, dann sucht man so lange, bis man die Ursache kennt und sie behandeln kann, und bis es so weit ist, erhält es Krücken und Physiotherapie. Wenn ein Kind aber Mühe hat, soziales Verhalten zu erlernen, wird es oft, viel zu oft einfach damit allein gelassen. Es erhält die nötige Hilfe deshalb nicht, weil seine Eltern sich vor dem Stigma und den Bemerkungen anderer Leute fürchten oder eine Abklärung nicht mit ihrem eigenen Wertekanon übereinstimmt.

Wenn ein Kind leidet – weil es sich selbst für „dumm“ oder für einen Versager hält, weil ihns seine Gschpändli ablehnen und nicht mehr mit ihm spielen möchten – dann darf man es nicht hängen lassen. Dann braucht es Hilfe!

Ziele der Abklärung

Nachteilsaugleich

Praktische Hilfe bekommt ein Kind im Schulbetrieb nicht automatisch, sondern nur auf Antrag. Früher wurden diese Kinder aus der Regelschule genommen und in Kleinklassen oder an Sonderschulen geschickt. Heute gehen die meisten von ihnen weiter in die Regelschule. Sie haben zwar ein verbrieftes Recht auf gewisse Nachteilsausgleiche – aber auch hier wieder nur auf Antrag. Selbstverständlich müssen Eltern belegen, dass der Nachteil tatsächlich besteht. Das ist eines der Ziele der Abklärungen.

Auf den Stärken aufbauen

In grossen Klassen haben Lehrpersonen keine Zeit, um sich stundenlang mit nur einem einzigen Kind hinzusetzen und mit ihm zu lernen. Denn es hat ja nicht nur dieses eine Kind gewisse Probleme. In derselben 25-ger Klasse hat es noch andere Bewegungsfreudige, mehrere Fremdsprachige, und zahlreiche Kinder mit Lernschwierigkeiten (Legasthenie, Dyslexie, Dyskalkulie…). Nicht zu vergessen die Hochbegabten. Und auch die durchschnittlichen, „normalen“ Kinder haben die Aufmerksamkeit der Lehrperson verdient. 25 Kinder, eine Lektion dauert 45 Minuten. Das gibt etwas weniger als 2 Minuten pro Kind pro Lektion.

Die meisten Lehrpersonen lieben ihren Beruf und sie würden gerne auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes eingehen. Aber im heutigen Schulbetrieb ist das in diesem Ausmass leider einfach nicht möglich und deshalb sind sie froh, wenn im Rahmen von neuropsychologischen Abklärungen herauskommt, welche Ressourcen ein Kind hat, auf denen sie aufbauen können (die Schwächen kennen sie meistens sehr gut).

Nur wenn die Lehrperson die Stärken und Ressourcen des Kindes kennt, kann dieses auch wieder Erfolgserlebnisse haben, statt immer nur mit dem eigenen nicht Können konfrontiert zu sein und sich als Versager zu fühlen. Das Herausfinden der Stärken und Ressourcen des Kindes, damit diese gezielt gefördert werden können, ist deshalb das zweite Ziel der Abklärungen.

Fakten statt Spekulationen

Unabhägig vom Resultat der Abklärungen und unabhängig davon, ob sie zu einer medizinischen Diagnose führen oder nicht, werden Sie als Eltern danach einen Bericht in den Händen halten, der ihnen und ihrem Kind in den Verhandlungen mit den Lehrpersonen und der Schule helfen und ihnen als Familie den Rücken stärken wird.

Sollte die Abklärung zu einer Diagnose führen (was nicht immer der Fall ist), berichten viele Eltern von einer grossen Erleichterung: Das „anders Sein“ ihres Kinder hat einen Namen. Es ist nicht schlecht erzogen, die Eltern sind nicht „Schuld“ an seinem Verhalten.

Auch wenn das Kind statistisch im Normalbereich ist, ist der Untersuchungsbericht hilfreich: Denn nun haben die Eltern es schwarz auf weiss, dass ihr Kind „normal“ ist. Auch das kann im Umgang mit Lehrpersonen und Schule helfen!

So oder so: Nach der Abklärung hat die Unsicherheit ein Ende und gegebenenfalls wissen sie, was als nächstes zu tun ist und wie sie wenn nötig ihrem Kind helfen können.

Die Eltern entscheiden

Sie haben mit den Resultaten der Abklärungen eine Entscheidungsgrundlage für jedes weitere Vorgehen. Über das SIE als Eltern entscheiden werden. Nicht die Schule, nicht die Ärzteschaft und nicht die Psychologen entscheiden über das weitere Vorgehen, sondern sie als Erziehungsberechtigte!

Wer führt die Abklärungen durch? In vielen Kantonen ist das der sozialpädagogische Dienst der Schule. Wenn sie diesem vorgreifen wollen, lassen sie ihr Kind von seinem Kinderarzt oder seiner Kinderärztin an einen auf die vermutete Störung spezialisierten Neuropädiater überweisen. Dies, damit auch mögliche medizinische Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten (zb. gewisse Formen der Epilepsie oder gewisse Mangelzustände) vor Diagnosestellung ausgeschlossen werden. Reden sie mit dem Arzt / der Ärztin ihres Kindes über seine Probleme in der Schule. Allenfalls kann ihnen auch die regionale Beratungsstelle der ELPOS (Adressen und Kontaktdaten) weiter helfen oder Stellen nennen, die ihr Kind abklären können.
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Sind Sie unsicher? Hier erklärt Ihnen K. Bleuer, was der Unterschied zwischen „hyperaktiv“ und „bewegungsfreudig“ ist.